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Teil 2

Herr Schulze und der ordre public

Stellen wir uns vor: Ein Deutscher, Herr Schulze, fährt mit seiner Familie in den Urlaub nach Frankreich. Am letzten Urlaubstag kommt es zu einem Autounfall mit einem Franzosen, und beide Seiten meinen, im Recht zu sein. Noch am Unfallort wird heftig gestritten, und später kommt es in Frankreich zu einem Zivilprozeß, in dem wieder heftig gestritten wird — und irgendwann liegt es dann auf dem Tisch: Ein französisches Urteil, das Herrn Schulze verpflichtet, an seinen Unfallgegner 8.000 Euro Schadensersatz zu zahlen.

Herr Schulze hält dieses Urteil für eine krasse Fehlentscheidung und ist nicht bereit, der Gegenseite »auch nur einen Cent« zukommen zu lassen. Der französische Unfallgegner will daraufhin gegen Herrn Schulze in Deutschland die Zwangsvollstreckung einleiten. Dafür benötigt er eine Vollstreckbarerklärung des französischen Titels (auch »Exequatur« genannt).

Die Europäische Vollstreckungstitelverordnung (EuVTVO) hilft dem Franzosen in unserem Beispiel nicht weiter, weil es sich bei dem französischen Titel nicht um einen Titel über eine »unbestrittene Forderung« handelt.

Maßgeblich für die Vollstreckbarerklärung des französischen Titels ist die EuGVVO (Europäische Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung). Nach dieser Verordnung wird das französische Urteil in Deutschland zunächst einmal für vollstreckbar erklärt, ohne daß es im einzelnen darauf ankommt, wie der ausländische Titel zustande gekommen ist (vgl. Art. 41 EuGVVO). Herr Schulze kann gegen die Vollstreckbarerklärung aber einen Rechtsbehelf einlegen. Und im Rechtsbehelfsverfahren wird die Vollstreckbarerklärung dann ggf. wieder aufgehoben, wenn sich herausstellen sollte, daß die französische Entscheidung in Deutschland nicht anerkennungsfähig ist (vgl. Art. 45 und Art. 34, 35 EuGVVO).

Nachdem Herr Schulze in der EuGVVO ein bißchen herumgeblättert hat, ist er guter Dinge. In dem Katalog der Anerkennungsversagungsgründe in Art. 34 EuGVVO steht nämlich an erster Stelle:

Eine Entscheidung wird nicht anerkannt, wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Mitgliedstaats, in dem sie geltend gemacht wird, offensichtlich widersprechen würde.

Und bitteschön: Daß es in dem französischen Prozeß nicht mit rechten Dingen zugegangen sei, das liege ja wohl auf der Hand, meint Herr Schulze. Der französische Kläger habe den gesamten Unfallhergang bewußt falsch dargestellt und habe dem Gericht faustdicke Lügen aufgetischt. Das Ganze könne er auch beweisen, er habe nämlich am Unfallort ein paar Fotos gemacht, die deutlich zeigten, daß es jedenfalls nicht so gewesen sein könne, wie es sein Unfallgegner dem französischen Richter erzählt hat.

Was Herr Schulze hier beschreibt, ist ein klassischer »Prozeßbetrug« – nämlich eine Täuschung durch eine Partei, die kausal für die Entscheidung eines Gerichts ist, wobei die täuschende Partei diesbezüglich Vorsatz hat.

Aber ist es wirklich so, wie Herr Schulze meint (und wie zahlreiche namhafte Wissenschaftler meinen), daß die Anerkennung einer durch Prozeßbetrug erwirkten Entscheidung in jedem Fall einen Verstoß gegen den ordre public des Zweitstaates bedeutet? Erlaubt der ordre public-Vorbehalt, ein im Ausland bereits geführtes Verfahren unter dem Gesichtspunkt des Prozeßbetrugs neu aufzurollen?

Bevor wir uns diesen Fragen näher zuwenden, soll zunächst einmal klargestellt werden, wo im Anerkennungsrecht »ordre public«-Vorbehalte geregelt sind, in welchem Zusammenhang diese zu anderen Regelungen des Anerkennungsrechts stehen und was es mit der Unterscheidung zwischen anerkennungsrechtlichem und kollisionsrechtlichem ordre public-Vorbehalt auf sich hat.

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© 2008–2011 • Ekkehard Regen